Im Rahmen seiner Teilnahme an der Beyond Growth Konferenz 2023 vom 15. bis 17. Mai in Brüssel hat der Internationale Verband der Gemeinwohl-Ökonomie folgende Elemente eines Nachfolgers für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche neue Messgröße für Wachstum erklärt:
Bürgerbeteiligung: Die Bestandteile eines Nachfolgers des BIP sollte nicht allein von Experten definiert werden, sondern mittels Bürgerbeteiligung in einem demokratischen und partizipativen Prozess von der Bevölkerung erarbeitet werden. Während die qualitativen Teilziele von den Menschen kommen sollten, könnten die quantitativen Indikatoren von Experten bestimmt werden. So könnten Demokratie und Wissenschaft eine zukunftsfähige Allianz eingehen.
Verknüpfung staatlicher und unternehmerischer Zielsetzung: Anstatt den Nachfolger des BIP (auf der Makroebene) und der Unternehmensnachhaltigkeitsberichterstattung (auf der Mikroebene) unabhängig voneinander zu entwickeln, sollten die zugrunde liegenden Ziele und Werte gemeinsam entwickelt werden. Unternehmen müssen ihren Beitrag leisten zu den übergeordneten Zielen einer Gesellschaft. Unternehmerische Ziele dürfen daher nicht mehr isoliert von gesamtgesellschaftlichen Zielen bemessen und bewertet werden.
Indexierung qualitativer Ziele: Alle qualitativen Teilziele, wie zum Beispiel Gesundheit, Glück, Vertrauen, Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden oder ökologische Stabilität sollten separat gemessen werden; gleichzeitig soll auch eine Aggregation möglich sein.
„Nur wenn diese Grundvoraussetzungen erfüllt sind, kann das BIP in allen politischen Strategien, Programmen und Erfolgsbewertungen wirksam durch eine neue Messgröße ersetzt werden. Anderweitig bleibt es bei einer statistischen Größe ohne normative Kraft“, erklärt Christian Felber, Sprecher der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). „Unternehmen werden nicht in der Lage sein, die systemische Wachstumswende allein durch Eigeninitiative zu erreichen. Dafür muss sich das Systemdesign ändern. Das Modell der GWÖ beinhaltet die Verknüpfung positiver und negativer Anreize für Unternehmen entsprechend der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsleistung. Wenn ein Unternehmen den Einsatz natürlicher Ressourcen und Emissionen in absoluten Zahlen reduziert und so zur Stabilisierung und zum Schutz des Klimas beiträgt, könnte es niedrigere Steuern zahlen und bei öffentlichen Beschaffungs- und Wirtschaftsförderungsprogrammen Vorrang genießen.
Gemeinwohl-Bilanz als Tool zur Bemessung der gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsleistung
Finanzinstitute könnten dazu verpflichtet werden, nachhaltigen Unternehmen bessere Konditionen zu gewähren. Eine positive Mindestpunktzahl könnte Voraussetzung für die Börsennotierung und die Genehmigung von Fusionen und Übernahmen durch die Kartellbehörden sein. Selbst der Zugang zum Weltmarkt könnte anhand der Bewertung des Nachhaltigkeitsberichts differenziert werden. Mit der sogenannten Gemeinwohl-Bilanz bietet die GWÖ ein seit mehr als 10 Jahren bewährtes Tool. Bereits mehr als 1.000 Unternehmen setzen dieses Werkzeug ein. Es bemisst die gesamtgesellschaftliche Nachhaltigkeitsleistung eines Unternehmens. Auch die Akademie für Textilveredlung nutzt das GWÖ-Tool und legte 2021 ihre erste Gemeinwohl-Bilanz vor.
Im Zusammenspiel mit dem von der GWÖ geforderten „Gemeinwohl-Produkt“ werden die mikro- und makroökonomischen Ebenen effektiv verknüpft. „Um ein breites gesellschaftliches Momentum zu entwickeln, dürfen wir Postwachstum nicht über Konsum-Verzicht definieren, sondern müssen das qualitative Wachstum in den Vordergrund stellen. Denn es gibt mehr zu gewinnen als zu verlieren: Wohlbefinden, Befriedigung von Grundbedürfnissen, Lebensqualität, Verbesserung des Gemeinwohls und Gewährleistung eines guten Lebens für künftige Generationen.“
Über die Gemeinwohl-Ökonomie
Die weltweit agierende Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung nahm 2010 in Wien ihren Ausgang und basiert auf den Ideen des österreichischen Publizisten Christian Felber. Die GWÖ versteht sich als Wegbereiterin für eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung eines verantwortungsbewussten, kooperativen Miteinanders im Rahmen eines ethischen Wirtschaftens. Erfolg wird nicht primär an finanziellen Kennzahlen gemessen, sondern mit dem Gemeinwohl-Produkt für eine Volkswirtschaft, mit der Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen und mit der Gemeinwohl-Prüfung für Investitionen.
Aktuell umfasst die Bewegung weltweit 11.000 Unterstützer*innen, rund 5.000 Mitglieder in über 170 Regionalgruppen, 35 GWÖ-Vereine, über 1.000 bilanzierte Unternehmen und andere Organisationen, knapp 60 Gemeinden und Städte sowie 200 Hochschulen weltweit, die die Vision der Gemeinwohl-Ökonomie verbreiten, umsetzen und weiterentwickeln.
An der Universität Valencia wurde 2017 ein GWÖ-Lehrstuhl eingerichtet. In Österreich brachte die Genossenschaft für Gemeinwohl 2019 ein Gemeinwohlkonto auf den Markt. Im Kreis Höxter wurden im Herbst 2020 die drei ersten Städte gemeinwohlbilanziert. Seit Ende 2018 gibt es den Internationalen GWÖ-Verband mit Sitz in Hamburg. Der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss nahm 2015 eine eigeninitiierte Stellungnahme zur GWÖ mit 86 Prozent Stimmenmehrheit an und empfahl ihre Umsetzung in der EU.